Du bist, was Du misst. Nicht.
Grüße von Graf Zahl: Wenn die Identität zu einer Zahlenreihe wird, die Kreativität verschlingt.
(Stand 16.09.21 | Bilder fehlen noch)
Mit Ei und Brot bewaffnet beim Frühstück. Ich gehe meiner Lieblingsbeschäftigung nach, der des Prokrastinierens. Nicht um 9:00 am Schreibtisch, noch nicht 100% leistungsfähig. Noch nicht ein berufliches Telefonat. Dafür vermutlich zum Frühstück schon mehr Kalorien als mein BMI es erlauben würde. Immerhin ca. ein Drittel angestrebten sportlichen Aktivität schon erreicht. Aktivitätsgrad zu künstlerischen Betätigungen -20%. Während andere jetzt schon 10 Seiten geschrieben haben, fünf Postings mit mehr als 100 Likes zu einem ihrer 15 neuen Bildern hatten. Mindestens…
Beim Lesen des Buches „Kreativität“ (Melanie Raabe) sprang mir eine Überlegung der Autorin ins Auge. Die Warnung vor dem permanenten Vergleichen. Konkret in ihrer Überlegung: Warum können wir (unsere) Kunst nicht einfach Kunst sein lassen, einzigartig? Gerade wenn wir versuchen sie zu erschaffen? Warum vergleichen wir uns schon bevor wir angefangen haben? Ich denke weiter… Greifen wir schon im Vorfeld auf Metriken zurück, um Wahrscheinlichkeiten zu berechnen, Reichweiten zu eruieren, Gewinne, Applaus, Output, verkaufte Bilder – wie soll das Bitte kreatives Arbeiten fördern? Stimme zu. Es verschreckt, lähmt und schaltet in den Leerlauf, wenn nicht sogar in den Rückwärtsgang. Absolut förderlich, wenn man gerade wie ich dabei ist sein Kreativfeld auszubauen.
Eine meiner Prokrastinationsvarianten besteht darin, gedanklich auf einem Thema herumzukauen. So dann auch hierzu. Nicht gerade das, was ich eigentlich machen wollte, aber vielleicht führt es mich zu einer Erkenntnis, die dann erklärt, warum ich das was ich eigentlich machen wollte, nicht gemacht habe. Möglicherweise.
Also: Warum vergleichen wir? Das Vergleichen ist ein Phänomen, das sich durch alle gesellschaftlichen Bereiche zieht. Um Dinge (oder Menschen…) vergleichen zu können, werden sie sortiert, kategorisiert, systematisiert, passenden Messsysteme entwickelt und dafür gesorgt, dass sie auch von anderen übernommen werden. Das Gehirn mag Komplexitätsreduzierung grundsätzlich, der Mensch wohl die Ordnung, Kommunikation oder Macht... Zahlen sind wichtig, sie ermöglichen ein gemeinsames Verständnis, Einordnung von Zuständen und Situationen. Zahlen sind eine andere Form der Sprache, welche Entscheidungen erleichtern kann, Inhalte verdichten kann, Verbindlichkeit schaffen und Beweise prüfen kann. Ohne Zahlen geht es nicht. Aber Zahlen sind auch nicht alles und sollten nie isoliert für sich stehen. Aber gerade im persönlichen Alltag beobachte ich eine zunehmend größer werdende Orientierung an, Unterordnung unter bzw. Anpassung an Zahlen. Und die Tendenz (bei mir selber) sich mit den Zahlen zu identifizieren und sich daran zu bewerten. Und das bewirkt ein Störgefühl.
Zu Abstrakt? Zwei Beispiele gängiger krisenanfälliger Parameter im Alltag…
Immer gut für Zahlen: Der Körper
Ich habe schon immer irgendwie ein Thema mit meinem Gewicht gehabt. Nachdem ich vor einiger Zeit etwas mehr abgenommen habe, hat sich während Corona wieder was – sehr zu meinem Leidwesen – dazu geschlichen. Immerhin bin ich in guter Gesellschaft: Das Gewicht hat in der Pandemie zugelegt, vermeldeten jüngst die Krankenkassen. Im Durchschnitt hat die Bevölkerung 5 kg in der Krise zugenommen. Der ideale BMI, das Idealgewicht, die Idealgröße und Maße bis hin zur Länge einzelner Körperteile wird kurz auf eine Zahl gebracht und fertig ist der Frust.
Wenn man den Zahlen aber ein Zuhause in einem größeren Kontext gibt, wird es viel spannender: Ein Post auf Instagram in dieser Zeit lautete ungefähr wie folgt: Dein Körper bringt Dich gerade im Idealfall gesund durch diese Krise – und Du schimpfst auf ihn, weil er zunimmt, wenn Du nicht mehr so viel unterwegs bist wie vorher…? Vielleicht sollten wir in Pandemiezeiten die BMI-Skalen etwas verschieben. Oder zumindest grundsätzlich skeptischer behandeln. Auf TikTok geht eine Art Trend herum, bei dem durchtrainierte Frauen ihr vermeintliches Übergewicht laut BMI veröffentlichen. Welch Überraschung: Die Zahl alleine sagte nichts darüber aus, ob jemand etwas mehr Hüftgold hat und schon gar nichts darüber, ob diese Person gesund ist und sich wohl in ihrem oder seinem Körper fühlt, oder nicht. (Auf das Thema, ob die Ausstattung eines Mannes überhaupt irgendetwas über die weibliche Befriedigung aussagt, gehe ich an der Stell mal gar nicht erst ein…, passt aber auch sehr gut in diese Thematik).
Also: Man schaue sich das Zuhause der Zahl an, und nicht die Zahl alleine. Oder: Definiere die eigene Zahl. Ich habe übrigens der Waage abgeschworen, da ich fühlen möchte, wenn ich in meinem idealen Gewichtsraum bin, der sich auch verändern darf. Die Wohlfühl bzw. Unwohlfühlskala beim Lieblingsjeansanziehen ist hier für mich sehr viel präziser.
Job und Karriere: The only way is up
Auch schön: Der berufliche Werdegang. Ob Karriereschritte und -geschwindigkeit, Gehaltsstufen und -sprünge, Auszeichnungen, Netzwerkgröße oder der Meilenstatus, Boni, Budgetverantwortung, viele klassische Parameter der Beurteilung von Leistungsfähigkeit hängen an einem einseitigen Zahlenverständnis. Glücklicherweise nehmen Mitarbeitendenzufriedenheit und entsprechende Umfragen, Innovationsfreude und Teamfähigkeit und weitere Faktoren zunehmend mehr Raum ein. Die Gehaltserhöhung bekommt trotzdem derjenige mit der besseren Performance. Die Tendenz ist „mehr“. Ob andere Menschen mit weniger als 60 Stunden Arbeitseinsatz nicht trotzdem qualitativ hochwertigere Arbeit abliefern…?
Kurz: Wenn das Spotlight auf einigen wenigen Zahlen liegt, sollte ab und zu das gesamte Bühnenlicht angemacht werden. Nur so kann justiert werden, ob die richtigen Protagonisten im Vordergrund stehen und ggf. auch welches Stück hier eigentlich aufgeführt wird (und man es sich eigentlich angucken will…).
Auch im Sport (Tabellenplätze, Ablösesummen, Weltrekorde und Medaillenspiegel und Torschützenkönig), oder natürlich Politik und Wirtschaft. Immer noch freut mich bei letzterem, das Butan mit dem Glücksindex statt des klassischen BIP regelmäßig Fragen aufwirft. Spielt man diesen Gedankengang weiter, landet man unweigerlich bei gesellschaftspolitischen Theorien, Kapitalismuskritik und am Ende der Philosophie. Wir schweifen ab. Zurück zur oft unglückseligen Paarung von Kreativität und Zahlen.
Der Wunsch nach DER Wahrheit und die Angst vor der eigenen Meinung
Das Gute: Zahlen sind grundsätzlich sehr verlässlich, solange man sie nicht fälscht und sie richtig erhoben werden. Sie sind schneller massenkompatibel, als zwanzig verschiedene Meinungen, die sich erst im Dialog finden müssen. Zahlen sind sehr puristisch im Ursprung. Das Problem ist nur, das Zahlen erstmal mit einem berechtigten Grund entstehen müssen, und dann auch noch interpretiert und bewertet werden wollen. Ihre Bedeutung wird ihnen zugeschrieben. Je nachdem WER sie WARUM erhebt oder WER die Bedeutung festlegt. Was gestern noch eine valide Zahl war (Hallo, Inzidenzwert), kann heute schon weniger aussagekräftig sein. Braucht es also keine Zahlen, oder braucht es eher eigene Zahlen? Wie würden Sie ihre Kreativität messen? Ein Kindergärtner (Dezibel und Dauer des Lachens der Kinder) vermutlich anders als eine Kreativdirektorin einer Agentur (Auszeichnungen, Rankings) oder ein Koch (Anzahl positiv überraschter Gesichtsausdrücke bei Gästen und lobhudeligen Rückmeldungen in die Küche). Also sollten wir uns vielleicht gar nicht erst die Mühe machen fremden Zahlen – gerade bei sehr individuellen Themen – hinterher zu laufen.
Die Abkehr vom Algorithmus als Lösung?
Eine Künstlerin, Lisa Congdon, die ich vor allem aufgrund ihres spannenden Werdegangs verfolge, hat sich kürzlich auf Instagram sehr ausführlich erklärt, warum sie sich von der Plattform abwende. Sie wolle sich nicht dem Diktat des Algorithmus und damit verbundener Content-Vorlieben (Bewegtbild) unterwerfen. Es könne doch nicht sein, dass der Antrieb „mehr Reichweite“ dazu führe, dass sie ihre eigene Kunst – vorrangig Bilder und eben keine Videos – verrate… Die Story hat extrem viel Zuspruch und Verständnis erhalten, und Congdon einen großen Schwung neuer Follower*innen. Die Geschichte hat mich irgendwie berührt. In dem man seinen eigenen Werten treu bleibt, schafft man sich eigene „Metriken“, in deren Angesicht andere Algorithmen verblassen bzw. sich sogar unterordnen. Anders: Je nachdem von welcher Seite ich eine Zahl angucke, kann sie eine andere Relevanz haben…
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Das eigene Mess-System finden
Das Thema ist hiermit keinesfalls abgeschlossen. Ich denke ich werde mir einige Fragen stellen dürfen. Zahlen können helfen, den Fortschritt zu einem bestimmten Ziel zu verfolgen. Auf dem Schritt zur Klimawende stellen die 1,5 Grad wohl die wichtigste Zahl derzeit dar. Ob das Klima damit final gesichert ist, wage ich zu bezweifeln, aber die Chance hätten wir damit immerhin noch. Oder an anderer Stelle: Die Frauenquote in Vorständen bildet einen Schritt auf dem Weg zur Gleichberechtigung ab. Aber ist noch lange nicht damit zu verwechseln. Wenn das Ziel eine große Community oder viel Traffic auf einer Website ist, ist das natürlich fein. Wenn es aber um Weiterentwicklung und kreativen Spielraum geht, was wäre dann ein Indikator, dass man auf dem richtigen Weg ist?
· Welche Zahlen sind derzeit (möglicherweise zu unrecht) die Zielmesser?
· Was ist das Ziel des eigenen Vorhabens? (Achtung: Ziel muss nicht Erfolg sein;-)?
· Anders: Wann würdest Du das „Projekt“ als erfolgreich bezeichnen?
· Welche Zahlen (ggf. auch von Teilbereichen) könnten den Fortschritt anzeigen?
· Wie können diese Zahlen erhoben werden?
· An welcher Stelle vergleiche ich mich mit Anderen – und was genau vergleiche ich eigentlich?
· Welche Zahlen können entsprechend aus dem jetzigen Mindset getrost gestrichen werden?
Erste Erkenntnisse in Bezug auf das Exploratory… Wenn es nicht um Masse geht, bedeutet es zum Beispiel: Es muss nicht gefallen. Es darf unbequem, sperrig, hässlich, sinn- oder zwecklos sein. Der Erfolg für mich in diesem Projekt wäre für mich eher messbar durch: Die Farbflecken auf dem Küchenboden, beschriebene Seiten, veröffentlichte Artikel, persönliche und inhaltliche Rückmeldungen, leere Farbtuben, Anzahl der fertiggestellten Bilder, Vielfalt der genutzten Darstellungsformen, erweiterte Hirnaktivitäten, Intensivität und Dauer der Flow-Zustände, Schreib-Anfälle, Mut-Anstieg beim Klicken auf den Publish-Button, Dicke des Ideenbüchleins, Abnahme der Prokrastination. An der konkreten Messbarkeit arbeite ich dann noch.
Ein Eigenplädoyer zum vorläufigen Schluss: Ich mochte immer Geometrie, wenn es um Flächen, Formen und ähnliches ging. Da eröffnet sich eine Landschaft, geradezu eine Reise. Zahlen einsam und alleine erschienen mir zwar herrlich konkret, aber irgendwie etwas leblos. Man stupst sie an und meist blicken sie aus leeren Augen zurück. Wenn es ab jetzt also mehr um einen persönlicheren und wertebasierten Umgang mit Zahlen geht, ist es vielleicht wirklich auch mehr wie Geometrie. Die Fläche, der Kontext spielen eine Rolle, dann fühlt sich vielleicht auch die Zahl nicht mehr so einsam. Vielleicht brauchen sie einfach eine gute Tanzfläche. Mein Mathelehrer hieß übrigens Wunderlich.