Acrylistan

Unbekanntes Terrain zwischen Küchenatelier und Künstlerangst

Was passiert wohl, wenn man gewohntes Kreativterrain verlässt? Ein Selbsttest aus Gründen.

Normalerweise bin ich mit Papier und Stiften, iPad, Aquarell und vielleicht auch mal Kreide unterwegs, alles fein so weit. Handlich, überschaubar, relativ kontrollierbar. Langweilig. Ernsthaft: Manchmal langweile ich mich. Es ist zu klein, zu zart, zu sauber. Mehr Drama darf her. Also geht es jetzt in die expressionistische Welt der abstrakten Acrylmalerei. Wobei das zu sanft klingt, halte ich mir die kriegsartigen Zustände in Küche und Kopf vor Augen. Also besser „mir einen Weg in die künstlerische Acrylphase zu erkämpfen“. Zur Einordnung: Acrylmalerei ist quasi der etwas leichtgängigere (angeblich) Cousin der Ölmalerei. Ziel: Mich dort zu entspannen ohne Leistungsdruck. Weniger strategisches Illustrieren als intuitives Malen. Spaß am Experimentieren. Vielleicht ein paar großflächige und Bilder kreieren. No Pressure. So die Theorie.

In den vergangenen Tagen begann ich zu erahnen, dass ich mehr entdecken werde als eine neue Maltechnik. Und das tatsächlich weniger auf dem Blatt passiert als in Kopf und Herz. Interessanterweise erkenne ich sehr viele Parallelen zu meinen Beratungs- und Visualisierungsthemen: Veränderungsprozesse, lebenslanges Lernen, New Work, Mut, Fail, Fehlerkultur, Prokrastination, agiles Arbeiten, Zweifel… Willkommen auf der Reise. Hätte ich mir nicht so schwer vorgestellt.

Tag eins: Das externe Setting

Die Küche wurde kurzerhand zum Atelier umfunktioniert und verbreitet wirklich sowas von Kreativvibes. Vergleichbar zur Motivationsfähigkeit neuer Laufkleidung. Es funktioniert. Finde mich unglaublich kreativ und erlaube mir Rumzumalen ohne Plan. Befreiend. Und etwas ungewohnt. Ich habe immer einen Plan. Oder tue so. Und hier verliere ich mich in Farbwelten, Mischabenteuern und autonomen Wasserverläufen.

Das erste Bild ist fürchterlich (und wird am dritten Tag komplett übermalt. Und am fünften nochmal). Ich erlaube ihm erstmal über Nacht zu trocknen. Das nächste Blatt. Und noch eins. Und noch eins.

Tag zwei: Trust the Process (Slow the Action)

Bild eins hat leider keine wundersame Beautykur über Nacht erlebt. Passiert im realen Leben ja generell selten. War ja auch nur zum Austesten und so. Selten so was Hässliches auf Papier gesehen. Aber ist in Ordnung, wie krummes Gemüse halt. Und das ist bekanntlich aus völlig unsinnigen Gründen aus den Einkaufsregalen verbannt. Ist da etwa der innere Kritiker mit aufgewacht heute morgen?

Denke, dass ein bisschen strukturiertes Vorgehen Sinn machen könnte und nutze das ein oder andere Tutorial. Bisschen zu hübsch dort alles. Und so pastellig. Es ist ein komplett anderes Arbeiten als gewohnt und viel langsamer. Interessant, wie man doch so in seinen gelernten Arbeitsabläufen steckt. Hier gibt es jetzt zwischendurch immer Pausen zum Trocknen, teils arbeite ich an mehreren Bildern parallel und lasse die Kandidaten, die noch keine klaren Entwicklungstendenzen äußern, liegen. Wenn sie beim zehnten Mal Vorbeigehen immer noch nicht mitteilen, wie es mit uns weitergehen soll, zeige ich ihnen die kalte Schulter und hoffe auf Eingebung… Noch eins. Noch eins. Noch eins. Noch eins. Noch eins. Geduld ist nicht ganz meine Stärke, aber ich gewöhne mich daran. Acryl erscheint mir etwas unberechenbar, autonomer. So sehen auch die Bilder aus. Ich versuche es als ungewohntes Kompliment zu nehmen. Es gibt da Dynamiken, bei denen ich noch nicht weiß, wo sie herkommen. Und ich weiß auch noch nicht, ob mir gefällt, was hier entsteht. Aber wir sind ja im Experimentiermodus. Das darf so sein. Wer jemals Zeitzettel ausfüllen musste, kann möglicherweise den inneren Stress nachvollziehen, der bei vermeintlich nicht produktiver (=abrechenbarer) Zeit einsetzt.

Tag drei: Schöner Scheitern

Es gibt Favoriten. Und es bahnt sich gefühlt eine Art erster Stil bzw. Geschmack seinen Weg. Bilde ich mir ein. Die Bilder, die mir gefallen sind fast alles etwas eigenwillig und sperrig. Ich mag Körper, manche sehen auch aus wie Tiere. Teils wie Tiere die ich nicht mag. Und ich mag es scheinbar nicht zu bunt und zu fröhlich. Spricht da eine düstere innere Seite? Wie gut, dass es keinen Besuch gibt, der möglicherweise pseudopsychologische Interpretationen anstellen würde. So ganz verstanden habe ich immer noch nicht alles, aber ich gewöhne mich daran, Dinge wegzulegen, auch mal aufzugeben, oder komplett zu übermalen was langfristig wohl keine sonderlich gute Idee ist. Ich habe im Stillen die Hoffnung, dass es mit der Zeit so wird wie beim Fotografieren: Man macht mehrere Bilder, auf 19 von 20 schaut eine der Personen unterirdisch, aber bei einem… Die Küche sieht sowas von kreativ aus. Gegessen wird jetzt woanders. Ich bilde mir ein, dass das absolut förderlich ist. Wie Joggingschuhe am Morgen direkt in den Weg stellen. Es führt kein Weg vorbei. An den Pinseln.

Tag vier: Let it flow

Vor dem Frühstück ins Atelier, der erste Kaffee mit dem Pinsel in der Hand. Abends im Dunkeln weiteres Experimentieren. Um mich herum liegen Versuche, Missgeschicke, Bilder ohne Namen und ohne Plan. Und welche, die mich auf irgendeine Art berühren oder mit mir Kontakt aufnehmen. Vielleicht führt die Corona-Einsamkeit nicht nur zu erhöhter Kommunikation mit Pflanzen und Spatzen, sondern auch Bildern. Der Switch zwischen Auftragsvisualisierungen und den Atelierbilden ist speziell. Mein innerer Kommandant kommandiert, hinterfragt die Sinnhaftigkeit, sucht nach Zweckmäßigkeit. Ich versuche ihn zu ignorieren. Es gelingt mir stellenweise. Immerhin.

Es ist Nacht. Ehrlich gesagt ist es mir fast egal, ob aus den Bildern etwas wird, allein das Malen ist so schön und lässt meine Gedanken entspannen. Der Kommandant schläft. Als ich ins Bett gehe habe ich immer noch Farbe an den Händen. Ich glaube auch auf den Füßen.

Tag 5: Kreisverkehr

Wir fahren nochmal im Kreis und besuchen wiederholt die Stationen Setting - Prozess-Abtauchen – „Scheitern“. Könnte man – um es wichtiger klingen zu lassen (Stichwort Reframing) - als iterativen internen Kreativprozess bezeichnen. Und es meldet sich tatsächlich der Kommandant mit weiteren Überlegungen: Ob es nicht sinnvoller sei, die Zeit, die ich hier in ein ziel- und zweckloses Unterfangen investiere, in die Weiterentwicklung des eigentlichen Geschäftes zu stecken?

Ich überlege. Die Frage kann ich ihm nicht ganz beantworten. Meine innere Sokrates meldet sich. Muss man denn immer wissen was einen treibt und wo man hin will? Muss alles etwas bringen? Und wenn, was? Und wem? Gehen dann nicht auch ein paar Pflänzchen verloren? Die schönsten Blumen sehen am Anfang doch auch aus wie Unkraut. Wäre doch schade, wenn man ihnen nicht den Hauch einer Chance geben würde.
Genau das ist doch die Exploratory-Idee beruhige ich mich. Die Idee, die mein eigener Kommandant intern boykottiert, der Intrigant. Ich boykottiere mich selber und schlafe erneut irgendwie schlecht.

Tag 6: Sehnsucht

Leider beruflich und privat eine Woche unterwegs. Vermisse es jetzt schon. Das Küchen-Atelier. Werde mich in Vorskizzen und Ideensammlungen üben. Ist ja auch Teil des Ganzen. Und trainiert wiederum die Geduld.

(…)


Tag: 9: Internes Notizbuch

Tatsächlich ist gibt es auch ein internes Atelier wie ich feststelle. Bedeutet, dass ich interessante Farbverlaufe, Bildideen und Inspirationen permanent sammle. Interessant wie schnell sich doch so eine neue Tätigkeit ihren Weg bahnt, selbst wenn der eigentliche Platz des Geschehens 600 km weiter weg liegt…


 Tag 12: Back on Track.

(…)


Zwei Monate später

Ja - ich bin immer noch dran. Beweisführung unten.

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Covid-Chronicles 20/21 Teil 1

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Du bist, was Du misst. Nicht.